Die meisten Unternehmen unterschätzen die Geschwindigkeit der digitalen Transformation

Jan Rodig blickt auf eine langjährige Erfahrung mit der Entwicklung erfolgreicher Digitalstrategien und -Organisationen aus Linien- und Beratungsfunktionen zurück – sowohl für globale Konzerne als auch mittelständische Familienunternehmen. Er ist Geschäftsführer der Digitalagentur tresmo GmbH, Jurymitglied des bayerischen Businessplanwettbewerbs BayStartUP sowie Gastdozent an der Hochschule Rosenheim.

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Mit seinem Team unterstützt er zahlreiche renommierte Unternehmen beratend und umsetzend in den Bereichen Digitale Transformation, Softwareentwicklung und Big Data. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind das Internet der Dinge (IoT) und Industrie 4.0.

Wir sprachen mit ihm über die Digitale Transformation.

Herr Rodig: Beratungsunternehmen versuchen seit einigen Jahren zu analysieren, wo Chancen und Risiken der Digitalisierung liegen. Die Prognosen sind sehr unterschiedlich. Was aber fast alle Studien ergeben: Bei der Umsetzung sind gerade deutsche Unternehmen zu zögerlich und Deutschland riskiert damit im internationalen Wettbewerb zurückzufallen. Mit der Digitalen Agenda und diversen Programmen in den Bundesländern unterstützt die Politik durch Fördermittel in Millionenhöhe Unternehmen und versucht Anreize zu schaffen, damit Unternehmen die Herausforderung annehmen.

Liegen deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich wirklich zurück? Sehen Sie Unterschiede der Situation in Bayerisch-Schwaben und anderen Teilen der Bundesrepublik?

Diese Vergleiche sind doch häufig bewusst inszeniert. Klar, gemessen am Niveau der US-Internet-Giganten stecken unsere traditionellen Unternehmen noch im tiefsten digitalen „Mittelalter“, aber das gilt ja für die allermeisten herkömmlichen amerikanischen Unternehmen genau so. Richtig ist jedoch, dass von den 25 größten Software- und Internetunternehmen der Welt nur eines aus Deutschland kommt, während etwa 60% davon aus den USA und ca. 30% aus Asien stammen. Auch beim Anteil der zukunftsträchtigen Software- und Internetindustrie an der gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung liegen viele Länder vor uns – so ist dieser Wert beispielsweise in Südkorea rund drei mal so hoch und in Großbritannien fast doppelt so hoch wie bei uns. Während wir in Deutschland in „alten“ Industrien häufig Marktführer sind, spielen wir bei den Zukunftsthemen oft nur eine untergeordnete Rolle. Das ist extrem gefährlich.

Drei Dinge sollten uns in diesem Zusammenhang zu denken geben: Erstens beherrschen in digitalen Märkten in der Regel nur wenige Giganten den Weltmarkt. Zweitens schwappt die aktuelle vierte Welle der Digitalisierung – Stichwort „Internet der Dinge“ bzw. „Industrie 4.0“ – mit Gewalt auch in alle traditionellen und vermeintlich internet-fernen Branchen wie bspw. den Maschinen- und Anlagenbau. Und drittens löst das Internet in vielen Branchen nun zunehmend die Fesseln des Wettbewerbs, so dass wir in dramatischem Ausmaß Angriffe auf etablierte Märkte von bislang komplett branchenfremden Unternehmen sehen. Diese drei Trends können in der Tat dazu führen, dass Deutschland seine führende wirtschaftliche Position verliert. Zum einen, da wir in den digitalen Zukunftsbranchen bislang kaum Unternehmen von Weltrang hervorgebracht haben. Zum anderen, da auch in traditionellen Branchen der digitale Anteil der Wertschöpfung massiv steigen wird. Da müssen Unternehmen und Politik nun sehr energisch gegensteuern.

Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Signifikante regionale Unterschiede innerhalb Deutschlands sehen wir nicht. Die digitale Reife der Unternehmen hängt nach unserer Erfahrung vor allem von ihrer Größe, der Branche, dem Standort und der Führungskultur ab. Auch für viele ansonsten mustergültige Unternehmen sind Digitalthemen manchmal einfach noch sehr weit weg, das kann viele Gründe haben.

 

Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, damit das Thema „mehr Fahrt aufnimmt“? Was hindert Unternehmen daran, sich damit zu beschäftigen und strategische und operative Anpassungen vorzunehmen?

In der Tat war die Digitalisierung lange Zeit der meistunterschätzte Megatrend, nicht nur in den Führungsetagen. Noch vor einigen Jahren dachten viele Manager, mit denen ich sprach, beim Schlagwort „Digitalisierung“ zuerst daran, dass man die Akten aus dem staubigen Archivkeller holt um sie einzuscannen. Das Potenzial des Internets wurde komplett unterschätzt. Wir sehen dafür vor allem vier Gründe.

Erstens liegt das sicherlich an einer zutiefst menschlichen Eigenschaft – wir denken in linearen Abläufen, nicht exponentiell. Der technologische Fortschritt, welcher der Digitalisierung zugrunde liegt, ist jedoch exponentiell. Damit neigen wir dazu, die Geschwindigkeit dieser Veränderungen massiv zu unterschätzen.

Zweitens sind viele bahnbrechende digitale Innovationen lange Zeit nur schwer als solche zu erkennen, da sie einem disruptiven Entwicklungspfad folgen. Leider wird der Begriff „Disruption“ oft falsch verwendet, die Kernidee ist jedoch hochrelevant: Ein neues, einfaches Produkt startet in einer offensichtlich unattraktiven Nische am unteren Ende des Marktes. Dort wird es so lange optimiert und häufig auch das Geschäftsmodell variiert, bis das Produkt die Anforderungen des Massenmarktes erfüllt und aufgrund seiner überragenden Kostenposition dann die etablierten Wettbewerber verdrängt. Solche Entwicklungen sehen Sie jedoch mit den üblichen Managementmethoden meistens gar nicht.

Drittens wurde das Internet lange Zeit fälschlicherweise auf ein nettes Tool zum Musik hören, Zeitung lesen oder Schuhe kaufen, reduziert und man nahm an, damit wäre sein Potenzial schon erschöpft. Mit dem Internet der Dinge kommt die Digitalisierung nun aber tatsächlich überall hin, in jede Branche und perspektivisch auch in jeden Gegenstand. Die Erkenntnis, dass dies viele bekannte Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle erschüttern wird, setzt sich leider erst sehr langsam durch. Häufig beschränkt sich die Diskussion noch darauf, ob wir diese massiv fortschreitende Vernetzung nun gut finden sollen, oder nicht.

Viertens und letztens bedeutet Digitalisierung, dass ich als Unternehmen nach Wegen suchen muss, mich selbst zu kannibalisieren, bevor andere das tun. Das ist aber ein extrem schmerzlicher Prozess, der aus unternehmenspolitischen und auch ganz einfachen psychologischen Gründen häufig nicht angestoßen wird.

In Summe der Dinge ist es also tatsächlich gar nicht so einfach, die tiefgreifenden Veränderungen zu erkennen und die ersten Schritte in Richtung digitaler Unternehmung zu gehen. Glücklicherweise hat das Thema jedoch mittlerweile eine Dauerpräsenz in den Medien, so dass man langsam zumindest ein breites Verständnis für den Veränderungsdruck erkennen kann.

Um mehr Fahrt in die Umsetzung zu bekommen, sollten sich Unternehmen gezielt externe Sparringspartner suchen, die sich mit digitalen Trends und Transformationsprozessen auskennen. So eine unvoreingenommene Sicht von außen hat viele Vorteile und hilft einem auch, typische Fehler zu vermeiden. Auch wenn eine schonungslose Außensicht manchmal recht unbequem sein kann (lacht). Manche Unternehmen haben sich jedoch leider auch schon mit unprofessionellen Beratern die Finger verbrannt. Ein Kunde erzählte uns beispielsweise von einem Consultant, der die digitale Transformation auf „Speed“ und „Trial-and-Error“ reduziert hat. So ein Unfug ist natürlich sehr gefährlich.

 

Wie können Unternehmen für sich selbst ihre Lage einschätzen?

Wir empfehlen grundsätzlich ein zweigleisiges Vorgehen. Zum einen sollten Unternehmen in Anlehnung an den klassischen Strategieprozess eine umfassende Analyse ihrer Kunden und Wettbewerber vornehmen und dabei die wesentlichen gesellschaftlichen und technologischen Trends berücksichtigen. Insbesondere sollte aufgrund der schon besprochenen zunehmenden Branchenkonvergenz, also des Wettbewerbs über Branchengrenzen hinweg, die Wettbewerbsanalyse sehr weit gefasst werden. Man muss auch schauen, welche Startups, etablierten Internetunternehmen oder Firmen aus ganz anderen Branchen zukünftig zu ernstzunehmenden Wettbewerbern werden könnten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine realistische Einschätzung der eigenen digitalen Fähigkeiten, Ressourcen, Stärken und Schwächen des Unternehmens. Aus all diesen Dingen lassen sich am Ende meist schon recht schnell grob die ersten wesentlichen Handlungsfelder für die digitale Transformation erarbeiten.

Dieser klassische Strategieprozess ist zwar wichtig, aber keinesfalls hinreichend, um digital erfolgreich zu sein. In der dynamischen Technologiewelt lässt nicht alles langfristig planen und mit exakten Businessplänen hinterlegen. Ganz im Gegenteil, viele Innovationen und Marktveränderungen kommen heutzutage sehr plötzlich und reißen in kurzer Zeit etablierte Strukturen mit sich. Daher müssen sich Unternehmen daran gewöhnen, mehr auszuprobieren, mehr organisatorische Flexibilität zu schaffen und in kleinen Schritten sehr hypothesen- und datengetrieben vorzugehen. Das ist harte Arbeit und bedeutet in der Regel einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel. Das führt bei vielen Unternehmen, die wir beraten, dazu, dass neue Unternehmenseinheiten, Arbeitsformen und Organisationsmodelle geschaffen werden und ein Umdenken auf allen Hierarchieebenen stattfindet. Am Anfang überwiegt häufig die Skepsis und der Unglaube aber am Ende sind nach unserer Erfahrung fast alle froh, dass sie den Weg gegangen sind.

 

Wie können sich Unternehmen Know-how holen, wenn sie selbst sich nicht in der Lage fühlen, das Thema anzupacken? Wie finden Mittelständler einen geeigneten Berater?

Ganz wichtig ist aus unserer Sicht, dass die digitale Transformation kein Thema ist, dass sich als klassisches Beratungsprojekt abhandeln lässt. Es geht dabei zwar auch um Themen wie Strategie, Geschäftsmodell und Organisation aber ebenfalls ganz stark um technologische Fragen. Wenn Sie das mit einem Berater machen, der nur Folien malt und die Technologien nur oberflächlich kennt, machen Sie schnell ganz gravierende Fehler, die Sie viel Geld und Zeit kosten können.

Daher haben wir vor fünf Jahren mit tresmo bewusst eine integrierte Digitalagentur geschaffen, welche klassische Managementberatung mit einer großen Technologieabteilung und Big Data-Kompetenzen kombiniert. So können wir unsere Kunden nahtlos und in der Tiefe zu allen Themen rund um die digitale Transformation beraten und das auch umsetzen, ohne dass unsere Kunden die Schnittstellen zwischen all den Spezialisten selbst managen müssen. Wir helfen ihnen also dabei, zunächst die richtige Richtung zu bestimmen und den Weg auf der Landkarte zu finden. Dann packen wir gemeinsam mit ihnen die Sachen unterstützen Sie als Begleiter bis zum Ziel, sei es mit Projekt- und Changemanagement oder auch der Programmierung konkreter Lösungen. Nur so macht Beratung heute aus unserer Sicht für den Kunden Sinn.

 

Welche konkreten Schritte empfehlen Sie Ihren Kunden?

Das hängt ganz davon ab, mit welcher Frage ein Kunde zu uns kommt und wo er aktuell steht. Wir haben bei tresmo in letzter Zeit auf der Beratungsseite beispielsweise eine Internet-der-Dinge-Initiative für einen mittelständischen Maschinenbauer begleitet, die Digitalstrategie und ein entsprechendes Organisationsmodell für einen globalen Konzern entwickelt und umgesetzt oder aber auch die eCommerce-Aktivitäten eines Versandhändlers optimiert. Unsere Softwareentwicklung hat zum Beispiel kürzlich dafür gesorgt, dass ein Industrieunternehmen seine Maschinen vernetzen kann, ein Automobilhersteller bestimmte Marketingprozesse größtenteils automatisieren konnte und dass ein mittelständischer Baustoffhersteller seine Produkte nun online verkauft. Wie Sie sehen sind das alles sehr unterschiedliche Fragestellungen und wir setzen mit unseren Experten bei jedem Thema ganz individuell an.

Darüber hinaus haben wir in unserer Beratung über die vergangenen Jahre intensiv ein sogenanntes Digital Excellence-Modell erarbeitet, also einen strukturierten Analyseansatz bis in die Tiefe aller unternehmensrelevanten Digitalthemen. Auf dieser Basis können wir Unternehmen schnell und systematisch hinsichtlich ihrer digitalen Fähigkeiten, Chancen und Risiken beurteilen. Darauf aufbauend definieren wir pragmatisch mit Ihnen Maßnahmenpakete und eine grobe Roadmap, bevor es dann in die Detailanalysen und die Umsetzung geht.

 

Sie sprechen im Rahmen der 7. Cloud-Konferenz Augsburg am 19.10.16 über Herausforderungen und Erfolgsfaktoren der Digitalen Transformation. Welchen Input dürfen die Besucher konkret von Ihrem Konferenzbeitrag erwarten?

Einerseits werde ich einen Überblick über die Chancen, Risiken und Werthebel der digitalen Transformation geben und dabei auch über konkrete Studienergebnisse von uns sprechen, beispielsweise zu Geschäftsmodellinnovationen. Andererseits werde ich auch viele sehr konkrete Praxisbeispiele aus unserer Projekterfahrung mit einfließen lassen, damit die Zuhörer möglichst viele greifbare Anregungen mitnehmen können. Und nicht zuletzt freue ich mich auf eine spannende Diskussion!